Wohin treibt unsere Gesellschaft?

Titel: aus den Tiefen

Titel: aus den Tiefen

Sprachlich aufrüsten

Armin Nassehi, ein Professor für Soziologie an der Universität München, fragt in einem Gastartikel für die Zeit ganz offen danach, ob eine linke Gesellschaftskritik noch zeitgemäß sei. Dabei stimmt er den Leser eingangs mit drastischen Tönen auf die Stoßrichtung des Artikels ein:

  • die Planung der Veranstalter der Demonstrationen sei zynisch
  • die moralische Empörung der linken Szene sei widerlich
  • Die Polizei solle sich zu einer militärischeren Abwehr von Teilen der Demonstranten durchringen

Natürlich ist die Aussage des Anwalts der Roten Flora, Andreas Blechschmidt, blanker Zynismus, wenn er sagt, "man solle doch lieber in Blankenese randalieren, statt im eigenen Schanzenviertel". Und ja: das Ausmaß der Sachschäden und das wahllose Anzünden von Autos ist klar zu verurteilen. Aber darf deswegen ein Autor im Professorenrang in der renommierten ZEIT ohne sichtbare Überarbeitung eines Lektors eine ganze Szene verunglimpfen? Was bedeutet es, wenn wir nach einer Polizei rufen, die militärischer agieren soll? Sind die Zuständigkeiten und Unterschiede zwischen Polizei und Militär, die wir bislang für sakrosankt hielten, noch für alle bindend? Ein Soziologie-Professor weiß es in der Regel besser und die ZEIT auch. 

Sprachlichen Veränderungen folgen oftmals Taten. Zum Beispiel sehen wir in diesem Video, wie sich ein Mann drei Mal einem Polizeikonvoi in den Weg stellt. Daraufhin schlägt ihm ein Polizist direkt in das Gesicht.

Noch während der Demonstrationen gegen das mögliche Atommüll-Endlager Gorleben vor ein paar Jahren wäre die Handlung dieses Demonstranten als ganz gewöhnlicher friedlicher Protest oder ziviler Ungehorsam charakterisiert worden. Die ausgeübte Polizeigewalt hingegen hätte man als unangebracht zurückgewiesen. Die Castor-Transporte dauerten deswegen oft Tage, weil sich Demonstranten sprichwörtlich festgekettet hatten und die Polizei diese Ketten zunächst aufsägen musste. Erst dann wurden die Demonstranten reihenweise von der Straße getragen. Ein deutlicher Unterschied zu dem Vorgehen der Polizei in diesem Video. 

Sprachlich wird das von Youtube-Lesern so eingeordnet: 

  • Einige nennen es Polizeigewalt - andere einfach Respektschelle
  • Eins auf die Fresse wird weltweit gleich verstanden! TOP gemacht!

Ob sich Armin Nassehi bewusst ist, dass er solchen Kommentaren das Feld bereitet? Anders ist für mich jedenfalls der Begriff „militärischeres Vorgehen der Polizei“ nicht einzuordnen.

Sprachliche Umdeutungen

Damit jedoch nicht genug, Armin Nassehi ordnet die großen Probleme unserer Zeit als „zu komplex für durchsetzbare politische Lösungen“ ein. Es gibt aus seiner Sicht zudem gute Gründe für die Ungleichbehandlung von Menschen innerhalb eines Staates, aber auch etwa zwischen Deutschland und Uganda. Und er spricht der linken Denkweise die notwendige Sensibilität für diese widerstreitenden Kräfte einer Gesellschaft ab. Demgegenüber stellen die Rechten genau diese Grundsätze in Frage und seien damit selbstreflexiver als die Linken. 

Dem stimme ich nicht zu: 

  1. Für Armin Nassehi zählen die globale Gerechtigkeit, die militärische Entspannung und eine ökologische Heilung zu den großen Themen. Aber allein die Wortwahl ist bereits eine Verkehrung der Realität. Wir sind jenseits von Heilung und Entspannung oder Gerechtigkeit. Vielmehr geht um Ausgleich, Atempause und Begrenzung: Tierarten sterben unwiderruflich aus, die militärischen Konflikte nehmen weltweit zu, die Kluft zwischen Arm und Reich wächst.
  2. Kapitalismuskritik ist keine leere Signifikante für das Unbehagen an einer Welt, die komplex ist. Die Proteste gegen G20 richten sich vor allem dagegen, dass bereits bekannte und erforschte Probleme nicht gelöst werden, sondern im Gegenteil anwachsen. Komplexität von Problemen ist kein Naturzustand, sondern der Unwille oder die Unfähigkeit diese in den Griff zu bekommen. Und Unvermögen ist noch selten eine vernünftige Rechtfertigung gewesen.
  3. Historisch bewegt sich Armin Nassehi zudem auf sehr dünnem Eis. Denn die widerstreitenden Kräfte in einer Gesellschaft waren doch der Ursprung der Linken. Oder erinnern Sie sich daran, dass die preußischen Junker den Amtssitz Bismarcks stürmten, um die Rentenversicherung durchzuboxen? 

Wenn wir weiter unseren Planeten zerstören, wenn einige wenige die Hälfte des Weltvermögens besitzen, wenn es immer noch eine erste und eine dritte Welt gibt, dann sind wir gesellschaftlich nicht auf dem richtigen Weg.

Nur weil einige Indikatoren für Armut, Säuglingssterblichkeit und Bildung Besserung anzeigen, ist das kein Argument für Fortschritt. 

Als Menschheit verfügen wir über so viel Wissen und Macht, dass wir die Probleme unserer Welt alle lösen können. Es fehlt schlicht der Wille: Das ist der eigentliche Kern des stärker werdenden Protestes gegen die Ungerechtigkeiten in unserer Welt, innerhalb Europas und auch in Deutschland. 

 

Bildquelle: © Florian Kiel

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